Daniil Charms. (Brief an K.W.Pugatschowa 16.10.33)
Du fragst Dich, warum jemand so komische Texte schreibt,
ob das Witze sein sollen oder es da einen tieferen Sinn gibt, Du hast Dich schon totgelacht oder einfach viel Lust, eine Menge langweiliger Informationen aufzunehmen?
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Dann bist Du hier richtig. In den folgenden sieben Abschnitten habe
ich mal zusammengestellt, was Charms selber und einige seiner Interpretatoren
zu sagen haben über die Bedeutungen des Schrankes im allgemeinen
und Charms' Werk im Besonderen.
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"Oberiu", das ist die etwas windschiefe Abkürzung von Objedinenije realnowo iskusstwa - "Vereinigung einer realen Kunst". Diese Gruppe, zu deren Initiatioren Charms gehörte, gilt als der letzte avantgardistische Künstlerkreis Russlands vor dem kulturpolitischen Kahlschlag des Stalinismus, dem sie Anfang der 30er Jahre schließlich auch zum Opfer fiel. In ihrem 1927 anlässlich ihrer einzigen großen Veranstaltung verfassten Manifest distanziert sich die Oberiu sowohl vom offiziell verordneten Realismus, der "Forderung nach einer allgemeinverständlichen Kunst" als auch von der futuristischen "Zaum"-Schule. "Za'um" steht für "Jenseits der Vernunft" und bezeichnet eine von den russischen Futuristen, v.a. von Viktor W. Chlebnikov, eingeführte Lautsprache, mit deren Hilfe die literarischen Konventionen überwunden werden sollten: Die Gegenstände der Dichtung lösen sich auf zugunsten des "sich selbst genügenden Wortes". "Zaum" ist die Befreiung des Wortes von der Bedeutung. Die frühesten Gedichte von Charms sind stark an den Futurismus angelehnt, daneben zeigen sie surrealistische und dadaistische Anklänge. Doch obwohl in allen Zeiten "Zaum"-artige Elemente in seiner Dichtung vorkommen, verschwinden die rein lautmalerischen Texte bald. Denn mit der Bedeutung der Worte schwindet ihre "Kraft": "Das Wort wurde frei, zu frei, es hörte auf zu berühren." (Ivrii Tynianov 1924, zitiert in Levin S.13) Und so heisst es unmissverständlich im Manifest der Oberiu: Keine Schule ist uns fremder als die des Zaum. Als bis ins Mark reale und konkrete Menschen sind wir die ersten Feinde derer, die das Wort entleeren und in einen kraftlosen und bedeutungslosen Bastard verwandeln. Wir erweitern und vertiefen in unserem Schaffen den Sinn, die Bedeutung des Gegenstandes und des Wortes, merzen ihn nicht etwa aus.
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Die fünfte Bedeutung des SchrankesMit der Verkündigung einer "neuen Weltwahrnehmung" machen die Oberiuti klar, dass ihre Arbeiten nicht einfach eine Rückkehr zum gewohnten Realismus sein sollen. Im Gegenteil: Alle literarischen Konventionen werden durchbrochen, Themen, folgerichtige Handlungsabläufe und sinnvolle Zusammenhänge gibt es nicht.So heisst es im Manifest: Bislang seien auf den Theaterbühnen stets Begebenheiten erzählt worden, und zwar "möglichst verständlich und lebensnah". Das sei falsch. Das Oberiu-Theater versucht dagegen, ein eigenes, theatralisch-szenisches Sujet zu entwickeln, indem scheinbar sinnlos Einzelmomente aneinandergehängt werden. "Wenn ein Schauspieler, der einen russischen Bauern darstellt, plötzlich eine lange Rede in Latein hält - das ist Theater". "Reale Kunst" heisst konkrete Kunst - "nicht-symbolisch, nicht-emotional, nicht-literarisch." (Nakhimovsky S.15)... "Die Kunst als Schrank".
"Reale Kunst" heisst aber,
zumindest für Charms, auch: Kunst, die nicht vom Leben getrennt ist. Briefe,
Tagebuchnotizen, Gespräche, zufällige Gedanken... all das konnte Kunst
sein (vgl. Aleksandrov in Stoimenoff S.59). In der Konsequenz verschmelzen
in der oberiutischen Ästhetik auch die traditionellen künstlerischen und
literarischen Gattungsgrenzen. "Für Oberiu waren die Dekoration oder
eine hingeworfene Flasche ebenso
Schauspieler wie die Sprechenden und Agierenden." (Müller-Scholler
S.57) Von vielen frühen Werken Charms' lässt sich
nicht entscheiden, ob es sich um ein Gedicht, ein Theaterstück, eine
Erzählung, eine private Notiz oder eine Zeichnung handelt.
Ziel der Oberiu war, die Gegenstände aus ihren relativen Bedeutungen, aus Ursache-Wirkung- oder Zweck-Mittel-Verbindungen herauszuheben und sie rein, als sich selbst, "frei von der alten literarischen Vergoldung" darzustellen. Das ist der oberiutische Realismus. Er setzt sich bewusst über die Forderungen der Alltagslogik hinweg. "Kunst hat ihre eigene Logik, und sie zerstört nicht den Gegenstand, sondern hilft ihn zu erkennen." Mittel zur Befreiung der Gegenstände von den Zusammenhängen und der Worte von den Gegenständen - "in dieser Phase haben Worte für Charms eine eigene Realität" (Nakhimovsky S.51) - ist "die Kollision der Wortsinne" (Manifest). Alle Regeln der Grammatik und der Logik werden niedergerissen. "Das unabhängige Wort", schreibt Charms in einem anderen Aufsatz ("Säbel"), "ist nicht mehr gebunden an die Gesetze logischer Reihen."
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Der Übergang zum neuen StilDas avantgardistische Streben, sich aus den Sprachkonventionen zu befreien, das auf der Entdeckung beruht, dass die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind, bestimmt das Frühwerk von Daniil Charms. In der ersten Hälfte der 30er Jahre tritt das verrückte, experimentelle Spiel mit Worten und Symbolen langsam in den Hintergrung. Charms wendet sich von der Lyrik ab und hin zu jener von ihm selbst entwickelten Literaturgattung, der feinsinnig-grotesken Miniaturprosa.Das spätere Werk ist im normalen Sinn "realer" als das frühe, die Gestaltung ist konventioneller, die Inhalte klarer und geschlossener. Die geschilderten Ereignisse spielen durchweg in der konkreten Alltagswelt Leningrads der 30er Jahre. Nakhimovsky (S.62ff.) weist darauf hin, wie viel von seinem eigenen Leben, seiner Umgebung, seinen Gedanken und Beobachtungen Charms in diese Stücke einfliessen liess.
Kann man den späten Texten formal "eine dem oberiutischen Kunstbegriff
entgegengesetzte Grundhaltung" (Stoimenoff S.124) zuschreiben, so
bedeutet das nicht, dass die damaligen Ziele ganz fallen gelassen wurden. Zweitens hat auch die spätere Dichtung, und sogar ausgeprägter als die frühe, einen konstruktiven Aspekt. Immer noch geht es um die Öffnung eines "Fensters" zur eigentlichen Wirklichkeit. Waren die experimentellen Stücke auf eine solche Wirkung beim Zuschauer oder Zuhörer ausgerichtet, so zieht Charms sich jetzt in sein privates, persönliches Gebiet zurück - Die Beeinflussung eines Publikums hatte sich sowieso erledigt, ab 1932 wurde kein Text mehr veröffentlicht oder aufgeführt. In dem wichtigen Liebesbrief an Klawdija W. Pugatschowa vom 16. Oktober 1933 verdeutlicht Charms seine Haltung, seine noch stärker gewordene Zuwendung zu den "Dingen", gemischt mit dem wachsenden Hang zum Transzendenten, zum Mysterium: Ich dachte daran, wie schön alles Ursprüngliche, alles Erste ist. Wie schön ist die erste Realität! Die Sonne ist schön und das Gras ist schön und ein Stein und das Wasser und ein Vogel und ein Käfer und eine Fliege und ein Mensch. (...) Wahre Kunst liegt auf der Stufe der ursprünglichen Realität, sie erschafft die Welt und ist ihre erste Reflektion. Wahre Kunst ist immer real. (Zwischenfälle S.272f., Levin S.42f./45)
Später im selben Brief unterscheidet er zwei "Kategorien", die
Kategorie der Rationalität und Wissenschaftlichkeit, in der alles
"einfach und verständlich" ist, und die "zweite Kategorie", "die dieser ganzen
Architektur (...) einen Wert gibt". Diese Kategorie ist für den
Menschen unerreichbar, "es führen keine Wege zu ihr".
Diese zweite Kategorie macht, dass der Mensch plötzlich alles
hinwirft und sich der Mathematik ergibt und dann die Mathematik hinwirft
und sich der arabischen Musik ergibt und dann heiratet und dann Frau und
Sohn ersticht und sich auf den Bauch legt und eine Blume betrachtet.
(Zwischenfälle S.275)
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Die neue Form: Die Anti-ErzählungMit dem selbst zusammengestellten Zyklus "Fälle" begründete Charms Mitte der 30er Jahre "ein neues literarisches Genre" (Druskin), George Gibian (S.38) nennt es "die Anti-Erzählung", ihr Gegenstand ist das "Anti-Ereignis" (Kasack S.208). Die Stücke sehen aus wie sehr kurze Geschichten, doch fehlt ihnen eigentlich alles, was Geschichten normalerweise ausmachen, thematische Entwicklung, Zusammenhang, einheitliche Aussage, Abschluss usw.Ein besonders verblüffendes Beispiel ist "Begegnung": Da ging einmal ein Mensch ins Büro und traf unterwegs einen anderen Menschen, der soeben ein französisches Weißbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand. Das ist eigentlich alles. Die geschilderte Begebenheit ist hier nicht einmal absurd, absurd ist die Tatsache, dass diese Begebenheit geschildert wird. "Nur der Titel zeigt dem Leser an, dass das ein Stück Literatur ist", kommentiert Neil Carrick (66). Was immer der Leser oder die Leserin aber von einer literarischen Erzählung erwartet, bleibt hier unerfüllt. Der eine Satz, in dem die "Begegnung" erzählt wird, erweckt bestenfalls den Eindruck eines Auftakts zu einer richtigen Geschichte, doch mit dem lapidaren Schluss "das ist eigentlich alles" bleibt der Leser vor dem Häufchen seiner zusammengefallenen Erwartungen alleingelassen. Der Verstoss gegen die Regeln der Gewohnheit ist das durchgehende Element in Charms Miniaturgeschichten. Das ist sein neues Werkzeug, um den "Zusammenstoss der Bedeutungen" zu erreichen: Der gewöhnliche Sinn der Dinge löst sich auf, indem der Alltagserfahrung und der Alltagslogik der Boden unter den Füssen weggezogen wird, stattdessen werden gänzlich unerwartete, neue, scheinbar sinnlose Funktionen der Gegenstände und Darstellungsweisen eingeführt.
Ein häufiges Stilmittel, das auch bereits in der Oberiu-Phase reichlich
Verwendung fand, ist der Gebrauch eines Wortes in einem dem Sprachgebrauch
zuwiderlaufenden Zusammenhang. Wie effektvoll damit eingefleischte Klischees
vernichtet werden können, z.B. die gerade in der Sowjetzeit hochgehaltene
Heldenverehrung, zeigt die Zeile aus dem Lied des "Ritters und
Patrioten" Alexej Alexejewitsch Alexejew:
Ebenfalls aus seinen früheren Arbeiten weitergeführt werden Zaum-Fragmente,
in ansonsten gewöhnliche Sätze eingemischt, sowie scheinbar
zufällig ausgewählte Worte wider jede semantische Norm, so etwa
in diesen Gedichtzeilen:
" Der Kuckuck lächelte wie ein Wurm, erhob sich auf
seine Beine, so dass Katja erschrak (...) und wie ein Teller
davonlief." (nach Levin S.118)
Viele Stücke sind "Was wäre wenn"-Geschichten: Konsequente
Ausarbeitung unrealistischer Voraussetzungen.(vgl. Gibian S.39) Die
Lautstruktur und die formale Einfachheit ebenso wie die Unkünstlichkeit
des Stils geben ihnen oft den Anklang von Kindergeschichten. Die
Kindlichkeit in Charms Erzählungen scheint besonders grotesk, wenn man
beachtet, dass er selbst Kinder nicht ausstehen konnte. "Charms,
das erwachsene Kind bzw. der kindgebliebene Erwachsene, kann mit anderen,
echten Kindern nichts anfangen" (Grob S.166). Inwiefern hinter
Aussprüchen wie "Kinder quälen ist grausam - aber irgendetwas muß man
doch mit ihnen machen!" nicht nur eine weitere Maske dieses
Kinderbuchautors liegt, mag dahingestellt bleiben. Seine Kollegin Nina
Gernet jedenfalls berichtet: "Die Kinder liessen sich von Daniil
Charms' finsterem Aussehen nicht täuschen. Sie hatten ihn nicht nur sehr
gern, er verzauberte sie förmlich." (Zwischenfälle S.357)
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Unmenschlichkeit, Brutalität und SinnlosigkeitStärker als in seinen frühen Arbeiten setzt sich Charms in seiner Kurzprosa mit seiner Umwelt auseinander, und diese Umwelt wird im Laufe der 30er Jahre immer düsterer: Es ist die Zeit von Industrialisierung und Kollektivierung, die Zeit des ersten 5-Jahres-Plans, der krankhaften Auslöschung aller Andersdenkenden, der Umwertung der sozialen Werte, der Manipulation von Geschichte und Realität. Gegenüber Charms selber nehmen die Repressionen zu: 1931 erfolgt die erste Verhaftung. Resignation und Angst breiten sich aus angesichts des zunehmenden, willkürlichen Staatsterrors, dazu kommt Charms' bodenlose Armut und der bald allgegenwärtige Hunger. Diese Verhältnisse finden in den Erzählungen ihren Wiederhall."Nicht seine Erzählungen sind absurd und alogisch, sondern das Leben, das er in ihnen beschreibt." (Jakov Druskin) Dieses Leben, diese Welt ist gesetzlos, chaotisch und brutal, hier geschehen bizarre, widersinnige Dinge, ohne erkennbare Ordnung, ohne Werte und ohne die Möglichkeit für den Leser, das zu verstehen. Die Darsteller selbst wundern sich bezeichnenderweise nie über die Ereignisse. Wie Bertram Müller (S.59) meint, ironisiert diese Ignoranz gegenüber dem Unfasslichen den Widerspruch, in den die herrschende Ideologie mit ihrem Anspruch gerät, eine vollständige Erklärung der Welt auf materialistisch-rationalem Weg liefern zu wollen aber nicht liefern zu können. Die meisten Charaktere sind überhaupt weit davon entfernt, sich irgendwie menschlich zu verhalten, sie scheinen in ihrer eigenen "solipsistischen" (Carrick S.41) Weltsicht gefangen. Ihre Motive sind mehr als rätselhaft, ihr Verhalten grotesk, automatenhaft, häufig ungemein grausam. Die Grausamkeit mancher Geschichten ist so ausgeprägt, dass einem mitunter das Lachen im Hals stecken bleibt. Wieso zieht sich sinnlose Brutalität wie ein blutiger Faden durch fast alle der größtenteils sehr humorvollen Erzählungen - war das Charms' eigener makabrer, fast sadistischer Humor? Nein. "Die 'Gemeinheit', über die er schrieb, fand er nicht angenehm, nicht einmal komisch, sie war für ihn genau das: schrecklich." (Druskin) Charms war keine Witzeschreiber, und obwohl der Humor sein vielleicht liebstes Mittel zur "Entlarvung des Lebens" (Druskin) war, so doch nicht das einzige. Der wahrscheinlich grausamste und zugleich letzte von Charms verfasste Text, "Rehabilitierung" kann als bitter-groteske Überzeichnung der rationalen Rechtfertigung von Gewalt als "natürliche Notwendigkeit" oder "Erfordernis der Gesellschaft" verstanden werden.
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DeutungsvorschlägeEs ist schwierig und vielleicht schon vom Ansatz her irreführend, Daniil Charms' Werke als Einheit oder Einheiten verstehen zu wollen. "Es gibt kein Ganzes, sondern nur Bruchstücke", sagt Aleksandrov über die "Komödie der Stadt Petersburg" (in Stoimenoff S.118) und das gilt wohl für viele von Charms' Texten. Gerade die frühe Lyrik enthält sich bewusst eines konkreten Inhalts, eines Themas.Bertram Müller etwa geht wohl zu weit, wenn er aus dem Werk, insbesondere aus dem Drama "Elizaveta Bam"als Gesamtfazit die Schilderung der Absurdität des Daseins herausliest. Zurecht entgegnet Nakhimovsky: "Es gibt hier nicht einmal wie im europäischen Theater des Absurden den Sinn, dass das Leben sinnlos ist." (S.40, vgl. Stelleman S.152, Gibian S.24ff.) Zweifellos ist Charms ein absurder Schriftsteller, aber die Absurdität ist nicht sein Credo, er ist nicht Camus. Charms benutzt die Absurdität und parodiert damit bestimmte Formen der Realität und ihrer Darstellung. Wenn es keine rational einsichtige Verbindung zwischen den Teilen oder Sätzen eines Stückes gibt, dann ist das weniger ein Hinweis auf eine tiefe, systematische Wirklichkeitsauffassung, sondern eher noch eine Hommage an die nicht-systematische, partikulare Realität der aus ihren Zusammenhängen "befreiten", "reinen" Gegenstände. Das Fehlen eines konkreten Themas soll auf der anderen Seite aber auch nicht bedeuten, dass die Texte aussagelos oder beliebig seien. "Sie vermitteln vielmehr einen metalogischen, in sich schlüssigen Kommentar zur Zeit, die psychologische Wahrheit der Befindlichkeit des Dichters", schreibt Christine Müller-Scholler (S.74), und auch die Deutung Ljubomir Stoimenoffs (S.113), Charms' Arbeiten liessen sich einfach als Bewusstseinserweiterungen verstehen, ist plausibel. Untersucht man die einzelnen Kurz- und Antigeschichten, kann man auch unschwer eine gewisse Kohärenz und Symmetrie zwischen ihnen entdecken. Aus allen spricht z.B. jene "Verzweiflung über die Entmenschlichung (...) und die Öde der Alltagsgleichheit" (Kasack S.209). Und viele thematisieren mehr oder weniger offen die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Erkenntnis der eigentlichen Welt, der "Dinge an sich", wie Immanuel Kant es formulieren würde. "Umfassend", schreibt Neil Peter Carrick, " lassen sich Charms' Geschichten als Miniaturversionen der Kritik der reinen Vernunft beschreiben." (S.20) Unter diesem Gesichtspunkt ist interessant, dass einer der "Fälle" (und zwar der erste im Zyklus) im Manuskript die Anmerkung "gegen Kant" trägt. Es ist die "Geschichte" "Blaues Notizbuch Nr. 10", das ontologische Rätsel um einen rothaarigen Menschen, der, wie seine nähere Beschreibung zeigt, nicht nur keine Haare, sondern überhaupt keine physische Existenz hat. Am Anfang und am Schluss redet der Erzähler von "ihm", obwohl dazwischen klar wird, dass da nichts ist. Wovon handelt also der Text? Man kann, Carricks ausführlicher Interpretation (S.85-153) folgend, hier eine Erneuerung der Möglichkeit "nicht-relativer" Existenz im Sinne der "fünften Bedeutung" sehen: Der Rotschopf existiert ohne materiell, wahrnehmbar zu sein. Eine vorschnelle Deutung als Hinweis auf die metaphysische Seinsweise des Menschen (Seele) wird von Charms selber ironisiert, denn dann muss es auch eine metaphysische Rothaarigkeit geben: Von einem Menschen ohne physische Attribute zu sagen, er "war einmal", ist wie von Rothaarigkeit zu sprechen bei etwas (genauer: Nichts), das keine Haare besitzt. Tatsächlich scheint Charms dennoch einer metaphysischen Deutung zugeneigt, versteht man nämlich den Zusatz "gegen Kant", wie Carrick (S.119ff.) vorschlägt, als Widerspruch gegen dessen Ablehnung des ontologischen Gottesbeweises mit der Begründung, Existenz sei keine Eigenschaft eines Gegenstandes. Ein häufig wiederkehrendes Motiv in der späten Prosa ist das Mysterium, das Wunder, das Jenseitige. Inmitten der chaotischen, unmenschlichen Banalität der Ereignisse treten Anzeichen einer transzendenten Ordnung auf, Neil Carrick sieht darin die Entfaltung einer "Theologie des Absurden". Charms' Interesse gilt nicht dem Jenseits nach dem Tod, der Tod ist bei ihm so sinnlos-trivial und zufällig wie alles andere. Ihn interessiert das Jenseits im Diesseits, er war auf der Suche nach Wundern, nach "Nachbarwelten" (ein an Leibniz angelehnter Begriff seines Freundes und Philosophen Lipavskji für die notwendig eigene, subjektive Sicht der Welt jedes einzelnen Menschen). So sagt Nakhimovsky über den von spirituellen Motiven durchzogenen Roman "Starucha", "die alte Frau": "Die Verbindung des Gewöhnlichen mit dem Heiligen in 'Starucha' ist die Verkündung, dass so etwas tatsächlich möglich ist: Die Verwirklichung von Charms' Wunsch, das Heilige solle sich inmitten seines eigenen Lebens zeigen." (S.97) Die Charaktere der "Fälle" jedenfalls können das Fantastische in ihrer Welt nicht erfassen, sie merken es nicht einmal, sondern bleiben in der Monotonie ihres Alltags gefangen.
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SchlussDurch das gesamte Schaffen von Daniil Charms zieht sich die Bestrebung, traditionelle Arten der Darstellung und Wahrnehmung aufzuheben, um zu einem neuen Zugang zur Realität zu finden. Während seine oberiutischen Stücke die literarischen Konventionen wie Zusammenhang und Einheitlichkeit strikt ablehnen, parodiert die Kurzprosa jede Möglichkeit einer Weltbeschreibung mittels Erzählungen: Erzählung setzt kohärente, verstehbare Tatsachen voraus, einfache kausale Verbindungen mit Anfang und Ende usw. - so sehen wir gewöhnlich die Welt, aber so ist sie nicht. Charms' scheinbar völlig unrealistische Geschichten sind "real", eben weil es eigentlich keine Geschichten sind.Nicht nur von literarischen, sondern von jeder Art von Konvention sagt Charms sich los, einschliesslich der Regeln der Moral, der Logik, der Sprache und der Mathematik (in der Erzählung "Sonett" etwa bricht ein Streit darüber aus, ob beim Zählen zuerst die 7 oder die 8 kommt). Er sagt sich von ihnen los, weil er sie nicht als Erkenntnishilfe, sondern -hindernis ansieht. "Was braucht der Mensch mehr als Leben und Kunst? Ich denke: nichts", schrieb Charms (Brief an K.W.Pugatschowa 16.10.33). Die Kunst war für ihn die Überwindung jener Realität des sozialistischen Aufbruchs, in der er lebte, sie war sein "Fenster", durch das die Lächerlichkeit alles dessen sichtbar wurde, was die Leute für selbstverständlich halten. Charms löst die Gegenstände der Welt aus ihren normalen Zusammenhängen und bringt sie in eine unsinnige, alberne, groteske Folge, er lässt sie "zusammenstossen" und bringt damit auch den Leser dazu, über sie zu lachen, "und er wollte kein laues, sondern ein starkes, befreiendes Lachen provozieren." (Kasper S.274f.) Das ist eigentlich alles.
Die Quellenangaben beziehen sich auf die Bücher der Sekundärliteratur-Liste, sowie auf folgende Titel:
Alle Übersetzungen der aufgeführten Texte von mir. |