Wer war Daniil Charms?"Gestern hat Papa zu mir gesagt, solange ich Charms bleibe, würde mich die Not verfolgen." Charms, Notizbuch 1936.
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Daniil Charms' LebenAnfang 1942 verhungerte der Dichter Daniil Charms, nachdem man ihn als nicht zurechnungsfähig freigesprochen hatte, in einem Leningrader Gefängnis. Hier in wenigen Stichworten die dem vorangegangenen Ereignisse.
Sein Vater ist Hofrat, Lehrer, Schriftsteller, Sozialrevolutionär und Tolstojaner, als Mitglied der anarchistischen Terrorgruppe 'Narodnaja volja' verbrachte er bis 1903 12 Jahre in Gefängnis und Straflager. Charms' Mutter, eine Adlige aus Saratov, arbeitet bis zu ihrem Tod 1928 in einem Obdachlosenheim für haftentlassene Frauen.
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Nach dem Abitur
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Anfang
"Die für das Programm verantwortlichen bemühten sich, szenische Verfahren zu finden, die dem Publikum helfen sollten, sich von traditioneller Wahrnehmung der Poesie zu befreien. In unserer Inszenierung gab es Licht, Ton, ungewöhnliche, verblüffende Gegenstände und deren Verbindung, oder für das Publikum unerwartete Auftritte des Zauberkünstlers Pastuchov und der Ballerina Popova." (Bachterev, Erinnerungen, in Fälle S. 239)
Ende
Die Oberiu wollte die traditionellen Gattungsgrenzen der Literatur auflösen, neuartige Kunstprojekte waren geplant, in denen auch auch Theater, Film und Malerei einen Platz finden sollten. Die meisten dieser Pläne wurden allerdings unter dem zunehmenden Druck der sowjetischen Kulturpolitik gegen unabhängige, experimentelle Gruppen nie realisiert. In einem Sammelband des Dichterverbandes erscheint die zweite und letzte Publikation zu Lebzeiten von Charms, ebenso von Vvedenskij.
Nach fieberhafter Vorbereitung findet am 24. Januar
Notgedrungen beginnen Charms und Vvedenskij, ihr Brot mit dem Schreiben von Kindergeschichten und -gedichten zu verdienen. Noch 1928 erscheinen die ersten Texte in der Zeitschrift Ez (Igel), seit 1930 auch im Tschiz (Zeisig). Ausserdem werden einige Erzählungen als kleine Kinderbücher gedruckt. Von nun an ist dies die einzige Einkommensquelle für die beiden Dichter.
Nina Gernet, die Chefredakteurin des Tschiz erzählt: |
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Unterdessen verhungern in Folge des Widerstands gegen die Zwangskollektivierung in der Ukraine etwa 1 Million Menschen. In der ganzen Sowjetunion nehmen über die nächsten Jahre hinweg die Versorgungsschwierigkeiten bedrohlich zu, in weiten Teilen des Landes herrscht Hunger.
Am 10. Dezember
Über Charms' Zimmer gingen verschiedenste Gerüchte um. Vladimir Lifsic berichtet von einer "mehr als asketischen" Einrichtung. In einer Ecke soll eine selbstgebaute "Maschine" die Aufmerksamkeit des Besuchers erregt haben. Auf die Frage, was für eine Maschine das sei, kam die Antwort: "Keine bestimmte. Eine Maschine ganz allgemein." Zahllos sind die Anekdoten über Charms' Auftreten. So kam er in seine Stammkneipe oft mit eigenem Geschirr und Besteck, im Theater gab er sich aus als sein Zwillingsbruder, der in Moskau Privatdozent für Philosophie sei, einmal stand er im dritten Stock des Hauses der Presse auf dem Fenstersims, rauchte eine Pfeife und lud die Menge, die sich unten versammelte, zu einer literarischen Veranstaltung ein... Ausserdem hatte er diesen Tick der übertriebenen Höflichkeit und Vornehmheit - "mit einem 'zerstörerischen' Schuss von Clowneskem" (Thomas Grob). Er trug absonderliche Kleidung, einen altmodischen Hut, zwischen den Zähnen klemmte die unvermeidliche Pfeife.
Charms' ungebrochen eifrige literarische Arbeit wendet sich unterdessen
immer deutlicher der Prosa zu.
Das Leben wird gefährlich in Leningrad: Nach der (von Stalin angewiesenen) Ermordung des Parteiführers Kirow kommt es zu Massenverhaftungen mit 117 Erschiessungen und der Deportation von rund 100000 unbescholtenen Einwohnern, in Moskau beginnen die grossen Schauprozesse.
Auch Charms' persönliche Lage beginnt dramatisch zu werden. Die Einkünfte aus
der Kinderliteratur reichen nicht zum Leben. Im Herbst
In diesem Jahr verlässt Vvedenskij Petersburg und zieht zu seiner Frau nach Charkow.Im Tschiz erscheint Charms' Übersetzung von Wilhelm Buschs Plisch und Plum.
Die gesamte Familie Rusakow wird verhaftet und zu 10 Jahren Lager verurteilt, Esther (Charms' erste Frau) stirbt dort 1938. Aus Charms' Notizbuch: "So weit habe ich es gebracht. Ich habe Angst vor dem Leben. Der Mensch darf sich nicht vor seinem Leben fürchten."
Seine finanzielle Situation ist katastrophal. Im September 1937 verfasst er
das Gedicht
morgens erwachst du frisch und munter, dann beginnt die Schwäche, dann beginnt die Langeweile, dann kommt der Verlust der raschen Verstandes Kraft, - dann kommt die Ruhe. Und dann beginnt das Entsetzen.
"Ich weiss nicht, was wir heute essen werden. Und was wir weiter essen
werden, weiss ich ganz und gar nicht. Wir hungern."
"Mein Gott, ich habe nurmehr eine einzige Bitte an Dich: vernichte
mich, zerschlage mich endgültig, stoße mich in die
Hölle, laß mich nicht auf halbem Wege stehen, sondern
nimm von mir die Hoffnung und vernichte mich schnell, in
Ewigkeit. "
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![]() ![]() ![]() ![]() Im Herbst stellt er den Zyklus "Fälle" zusammen, den er Marina Malitsch widmet.
"Das Fenster geht auf.
8.7. Letzte Begegnung mit der Schwester Elisaveta. Sie erinnert sich: "Als wir uns verabschiedeten, sagte Danja zu mir: ich begleite dich nicht auf den Bahnhof, wir sehen uns zum letzten Mal. Er hatte, wie Papa, die Gabe, die Zukunft vorauszusehen." Am 23.08. wird Charms zum zweiten Mal verhaftet. "Der Hausmeister kam und bat ihn, wegen irgendetwas hinunterzukommen auf den Hof. Und dort stand schon der 'schwarze Rabe'. Sie nahmen ihn halbangezogen mit, nur mit Pantoffeln an den bloßen Füßen..." Die Anklage lautet auf "Verbreitung defaitistischer Propaganda", wird aber im Dezember fallen gelassen. Charms wird für unzurechnungsfähig erklärt und in die Gefängnispsychiatrie eingewiesen. Unterdessen beginnt die Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht. "Frauen, Kinder, alte Leute abziehen lassen, Rest verhungern lassen." (Vortragsnotiz Abt. L im OKW/WFSt. 21.9.41) Mitte Dezember kommt Vvedenskij unter ungeklärten Umständen in Haft um.
Am 2. Februar
Aus dem Tagebuch Jakov Druskin 10.02.42:
"Einmal hielt ich es nicht aus und platzte laut heraus vor Lachen. Alle wendeten sich entsetzt zur Flucht - der eine durch die Tür, der andere durchs Fenster, der dritte direkt durch die Wand. Wieder allein, stand ich in meiner ganzen mächtigen Grösse auf, öffnete den Mund und sagte: - Prin prim pram. "Charms selbst war Kunst""Kaum jemand hat Charms verstanden", schreibt sein Freund, der Philosoph und Musiktheoretiker Jakov Druskin, "seinen Blick auf das Leben, das Wunder und die Harmonie - eine Sicht, die er nicht nur in seinem Werk, sondern auch in seinem Leben verwirklicht hat: in seinem Lebenswerk." Wenn Charms in der Zeit des stalinistischen Aufbaus an alten, dem Zarenreich angehörigen Umgangsformen festhielt, wenn er ständig seine Namen wechselte oder sich als sein eigener Bruder ausgab, dann waren das nicht einfach Ticks eines komischen Spinners, sondern Ausdrücke einer Weltsicht, einer Kunst, die das ganze Leben in sich einschließt. "Daniil Charms" war kein Pseudonym, kein Deckname, sondern ein Selbstverständnis. "Charms selber ist Kunst", sagte Vvedenskij Ende der 30er Jahre. Er wollte sein Leben als ein Wunder leben, so wie er die Welt als Wunder empfand. Er verachtete das Grau der Alltäglichkeit und des Mittelmasses, die Automatisierung des Lebens im nachrevolutionären Spiessertum. Als alles, selbst die Poesie, politisch wurde, suchte er nach einem neuen Zugang zur Realität, bei dem die Einzelereignisse des Lebens im Vordergrund standen, nicht ihre historische Dimension. Seine Haltung gegenüber Dichtung und Leben erklären die Worte aus dem Notizbuch vom Oktober 37:
Mich interessiert nur der 'Quatsch', nur das was keinerlei
praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner
unsinnigen Erscheinung. "Über ihn haben nicht nur die Straßenjungen gelacht", erzählt Druskin, "sondern auch intelligente Menschen, sogar seine Schriftstellerkollegen, wie ich es einmal im Haus der Schriftsteller erlebt habe. In solchen Fällen wurde er mutlos, ließ den Kopf hängen, wich zurück vor der menschlichen Dummheit, Beschränktheit und Banalität."
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